(Kurzkrimi)
Als die Zeit noch jung war, ich in der Blüte meiner Jugend stand und mir die Welt zu Füßen lag, entschied ich mich für eine ebenso ungewöhnliche wie gefährliche Laufbahn, wenn man eine Tätigkeit in den tiefsten Schatten des Daseins überhaupt so bezeichnen kann. Von jeher erschien mir alles Hergebrachte fremd. Die Werte, Sitten und Gebräuche meiner Mitmenschen entsprachen nie meinem Verständnis von Gesellschaft. In meinen noch unschuldigen Augen schienen sie ihr Streben nach Macht und ihr unstillbares Verlangen nach Bereicherung zu ihrer geheimen Religion erhoben zu haben. All das widerstrebte mir und es gelang mir nicht, unter ihnen Gleichgesinnte zu finden. So kam es, dass ich in der Schule wie auch im Studium stets der Einzelgänger blieb, der nie aus ihren Reihen hervorstach und mitten unter Ihresgleichen weilte, ohne jemals wahrgenommen zu werden. Über die Jahre hinweg studierte ich die Verhaltensweisen und die Gesichtsausdrücke, die jene Gedanken nach außen tragen, die die Seele nicht zu verbergen vermag. Frei von den üblichen Moralvorstellungen und Werten der Gesellschaft, der ich den Rücken gekehrt hatte, konnte ich von außen auf die Welt blicken und lernte so Dinge zu sehen, die niemand sonst sah.
Mein Leben ist ein einsames, und so widersprüchlich das erscheinen mag, gleichzeitig eines, das mich in Kontakt zu vielen Menschen bringt, deren verborgene Wünsche und Ängste ich in Erfahrung bringe, um das Undenkbare zu tun. Wenn Sie jetzt aus dem Gesagten schließen, dass ich nur ein Produkt der mich missachtenden Gesellschaft bin und mich keine Schuld trifft, so möchte ich an dieser Stelle keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass ich eine tiefe Genugtuung darin finde, meiner Profession nachzugehen, für die ich, nebenbei bemerkt, eine ausgesprochene Begabung besitze. Obwohl meine Handlungen so einschneidend in das Leben von Einzelnen wie auch von vielen waren, hat nie jemand bemerkt, was ich tat – ausgenommen natürlich die wenigen, die mich beauftragt haben. Ich habe so viele Namen, dass ich keinen mehr habe und beschämt zugeben muss, meinen eigenen mit den Jahren vergessen zu haben. Wohl angeregt durch die Zeitungsschlagzeile über meine erste Tat und aus einer Art gefühlten Notwendigkeit heraus, gaben mir meine Auftraggeber einen Aliasnamen, der nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird: HELDENTOD.
30. Mai, Mittwoch.
„Geburtstagszeitung und Überraschungen, Sie sprechen mit Mike, was kann ich für Sie tun?“, schrie Mike in das Telefon, als wollte er die schlechte Verbindung, die ihm sein Drittanbieter zum Jahrespauschalpreis schaltete, durch die Kraft seiner Stimme verbessern. „Was meinen Sie mit: Wie echt unsere Zeitung wirkt? Es ist eine Geburtstagszeitung bestehend aus …“, Mike sagte seinen Verkaufsspruch auf, der ihm über die Jahre in Fleisch und Blut übergegangen war. Der Anrufer ließ ihn geduldig ausreden, bevor er seine nächste Frage stellte. „Ach, ob die auch auf Zeitungspapier gedruckt wird, wollen Sie wissen“, Mike lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und wippte vor und zurück. „Aber klar doch. Das ist doch der Trick. Sie sieht aus wie eine echte Zeitung. Früher ging das mit dem Papier nicht so gut, aber heute mit der neuen Technik ist der Papiertransport im Digitaldruck kein Problem mehr…“, ratterte Mike eine Flut von technischen Details herunter. Seine nagelneue Druckmaschine war sein ganzer Stolz. Allerdings, wenn die Geschäfte so weiterlaufen würden wie bisher, müssten wohl noch seine Erben daran abbezahlen. „Oh, das ist aber kurzfristig.“ Mike blätterte in seinem Kalender. „Kann ich unmöglich machen, da sind andere vorher noch dran.“
„Wie bitte?“ Mike stutzte kurz, beugte sich nach vorne und drückte den Hörer fester an sein Ohr. „Ich verstehe Ihre Frage nicht. Die Verbindung ist nicht so gut. Haben Sie gerade gefragt: Was kostet unmöglich?“ Plötzlich bekamen Mikes Augen einen leichten Glanz und er griff hastig nach seiner Computermaus. Ein paar Klicke später folgten den nickenden Bewegungen seines Kopfes die Worte: „Ist beides angekommen. Die Datei und die Überweisung. Wann schicken Sie den Boten zum Abholen der Zeitung? In Ordnung. Ich bedanke mich für den Auftrag.“ Mike legte langsam das Telefon zurück und verharrte für den Augenblick von zwei Atemzügen in völliger Bewegungslosigkeit. Dann sprang er mit einem Schrei vom Schreibtisch auf und streckte beide Fäuste in die Luft. Nachdem er nochmals die Gutschrift auf seinem Onlinekonto überprüft hatte, nahm er die notwendigen Einstellungen an seiner Druckmaschine vor und druckte den Inhalt der Datei auf das Papier, das ihm sein Neffe jedes Wochenende aus der Zeitungsredaktion mitbrachte. Als der Bote zum vereinbarten Zeitpunkt den Auftrag abgeholt hatte, dachte Mike: „Von den reichen Ärschen, die immer in der ersten Reihe sitzen wollen und für die Geld keine Rolle spielt, davon bräuchte ich mehr als Auftraggeber.“ Schnell änderte er die Ansage auf seinem Anrufbeantworter: „Wegen einer dringenden Familienangelegenheit erreichen Sie mich erst wieder am nächsten Montag.“ Dann rief er sein Reisebüro an, erkundigte sich nach Last Minute Angeboten, schnappte sich seine Tasche, die er für solche Fälle im Aktenschrank aufbewahrte, und entschwand in Richtung Flugplatz.
31. Mai, Donnerstag.
Miras Handy klingelte unaufhörlich, oder besser gesagt, es vibrierte vor sich hin, ohne Aussicht auf Erlösung. „Willst du denn nicht endlich mal rangehen?“, fragte Nadja, die als ihre beste Freundin immer für Mira da war. „Will ich nicht“, schluchzte Mira mit verschmiertem Make-up und rot geränderten Augen.
„Aber er will sich bestimmt entschuldigen, will er bestimmt“, versuchte Nadja ihre Freundin zu beruhigen. Während sie mit ihrer warmen, einfühlsamen Stimme auf Mira einredete, verstummte das Handy plötzlich. „Bestimmt ist der Akku leer“, versicherte Nadja schnell. „Er würde niemals aufhören dich anzurufen, um dir seine Liebe zu gestehen.“ Mira griff nach ihrem Handy und blickte auf die Akkuanzeige: Voll! Im gleichen Augenblick begann es wieder zu vibrieren. Ohne zu überlegen, nahm Mira ab, fauchte einige unschöne Worte und warf das Handy wütend auf die Couch. Aus dem Lautsprecher schnarrte ihr eine verstörte Stimme entgegen, die sie sofort erkannte. „Entschuldigen Sie. Ich muss mich wohl verwählt haben.“ Mit einem Hechtsprung angelte sich Mira das Handy von der Couch und säuselte: „Oh, Karl! Entschuldige bitte, dass ich dich angeschrien habe.“ Sie blickte zu Nadja und ihre Lippen formten unhörbar die Worte ‚mein Agent’. Sofort legte Nadja ihren Kopf ans Handy, um mithören zu können. „Ich konnte einen super Auftrag für uns an Land ziehen. Nur eine Stunde schauspielern, aber es muss morgen Mittag sein und der Auftraggeber ist ein Psychiater. Bevor ich den Deal klar mache, müssen wir noch mal über meine Prozente sprechen.“ Mira stand auf und ging mit dem Handy am Ohr ins Bad. Als sie nach einigen Minuten zurückkehrte, schien sie völlig verändert. „Ich bin engagiert!“, jubelte sie und tanzte dabei um Nadja herum. „Wie jetzt?“ Nadja platzte fast vor Spannung.
„Ein amerikanischer Psychiater hat eine neue Therapieform für superreiche Manager entwickelt und ich soll morgen mitmachen, um irgendeinem armen Kerl über seine traurige Vergangenheit hinweg zu helfen.“ Nadja schüttelte den Kopf. „Und was ist mit dem Casting für die Kartoffelbreiwerbung?“
„Ach das, das brauch ich jetzt nicht mehr. Da die ganze Sache sehr vertraulich behandelt werden muss, ist die Bezahlung außergewöhnlich gut.“ „Das ist ja toll, herzlichen Glückwunsch“, freute sich Nadja und streckte ihr die Arme entgegen, um sie zu umarmen.
Mira jedoch entgegnete ihr in emotionslosem Ton: „Ich muss mich jetzt auf meine neue Rolle konzentrieren. Du verstehst sicher, dass ich dazu meine Ruhe brauche.“ Nadjas Mund stand immer noch offen, auch als die Tür längst hinter ihr zugefallen war und sie sich im Regen auf der Straße vor Miras Haus wiederfand.
1. Juni, Freitag, früher Morgen.
„He, Frank, du sollst sofort zum Alten kommen“, nuschelte Frau Müller, ohne von ihrem Schreibtisch aufzusehen. Als alteingesessene Sekretärin der Redaktion wusste Frau Müller über jeden in der Firma mehr, als der beste Geheimdienst jemals hätte herausfinden können. „Was will er denn?“, wunderte sich Frank.
„Keine Ahnung.“ Frau Müller zuckte mit den Schultern. Aber als Frank in Richtung Chefbüro verschwunden war, steckte sie eine zu einem Kreuz gebogene Büroklammer in ein Eiskonfekt, das nun wie ein kleiner Grabhügel aussah. Frank klopfte und öffnete die Tür. „Sie wollen mich sprechen?“
„Du brauchst dich gar nicht erst zu setzen“, ranzte ihn der Chefredakteur an, der auch alleiniger Eigentümer der Zeitung war. „Du bist nicht mal die Luft wert, die du hier atmest. Den Artikel über die Taubenplage habe ich gleich verbrannt. Und was sollte das mit dem ‚Wir helfen unseren alten Mitmenschen‘?“ Frank, der immer noch die Türklinke in der Hand hielt, erwiderte keinen Ton.
„Wenn du mir nicht bald einen Aufmacher bringst, wirst du selbst zu einem. Wie klingt das? Unfähiger Taugenichts stürzte sich nach Kündigung vor den Zug.“ Der Alte hatte sich nicht mal umgedreht, sondern kehrte ihm auch noch den Rücken zu, als Frank die Tür wieder hinter sich schloss. Niedergeschlagen ging Frank zu seinem Schreibtisch, auf dem er einen unbeschriebenen Umschlag fand. Mit nervöser Gespanntheit öffnete er ihn und las Zeile für Zeile. Dann stand er abrupt auf und verließ mit einem Grinsen auf dem Gesicht das Büro. Kaum war Frank draußen, sprang Frau Müller auf und las den auf dem Schreibtisch zurückgelassenen Brief: ‚Heute Nachmittag, 16 Uhr. Ort Pfandleihe Trübinger. Bring deine Kamera mit! John Doe.’ Frau Müller verstand kein Wort, denn selbst ihr war es entgangen, dass ein geheimnisvoller Informant mit dem Decknamen John Doe Frank über bevorstehende Polizeirazzien informierte – gegen ausreichende Belohnung, versteht sich. John Doe hieß in Wirklichkeit Trude Hundertmarck und war Putzfrau in der Polizeistation. Meistens arbeitete sie nachts, weil dann nicht so viel los war. Sie leerte nicht nur die Mülleimer, sondern las auch sämtlichen Schriftverkehr, der dort landete. Besonders der Mülleimer neben dem Kopierer war immer sehr vielversprechend. Doch heute war es anders. Ein Unbekannter hatte ihr 5.000 in kleinen Scheinen gegeben, damit sie Frank eine Nachricht übermittelte. Sie konnte nichts Verdächtiges daran finden. Er würde dort hingehen und nichts würde passieren, denn sie wusste ja, dass die Polizei die Pfandleihe Trübinger schon lange aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen hatte.
1. Juni, Freitag, am Vormittag.
„Das mache ich nicht. Ich bin ein ehrenwerter Mann.“ Friedrichs Stimme stockte und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Wo haben Sie die her? Nein, warten Sie, will ich gar nicht wissen. Ich werde jetzt auflegen, ja. Schönen Tag noch.“ Friedrich ließ sich auf seinen Hocker fallen und sein Blick blieb wie so oft an dem leuchtenden Schriftzug in seinem Schaufenster hängen. Aus seiner Sicht spiegelverkehrt stand dort: ‚Friedrichs Münzenparadies An- und Verkauf’. Seltsamerweise konnte aber nur er die Schrift lesen, denn alle anderen eilten an seinem Schaufenster vorbei, ohne auch nur einen Blick hinein zu werfen. Beim besten Willen konnte Friedrich sich nicht vorstellen, einfach so an einem Schaufenster mit der Aufschrift ‚Münzen’ vorbeizugehen. Doch vielleicht interessierte sich einfach kein Mensch mehr für Münzen oder alle, die es taten, waren bereits aus der Welt gegangen. Oder aber, die Schrift war einfach nicht auffällig genug. Während er so vor sich hingrübelte, blieb auf einmal ein junger Mann vor dem Schaufenster stehen. Nachdem er die Aufschrift gelesen hatte, trat er entschlossen ein. „Na also“, dachte Friedrich und schenkte dem Mann sein freundlichstes Lächeln. Aber es war nur der Bote, der ab und an in seiner Straße Depeschen zustellte. „Hier, das ist für Sie.“ Er übergab Friedrich einen großen verschlossenen Umschlag, ließ sich die Übergabe quittieren und verschwand so eilig, wie er gekommen war.
Friedrich öffnete das Kuvert und überflog das Anschreiben: Sehr geehrter Herr Guldentaler, anbei die Druckfahne für Ihr bereits bezahltes sechsmonatiges Inserat in unserer Zeitschrift ‚Die wundersame Welt der Münzen‘. Wir bitten um Prüfung, Freigabe und Rücksendung. Da wir diesen Monat die Auflagenhöhe von 500.000 überschreiten werden, verschiebt sich der Annahmeschluss um drei Tage. Wir bitten um Ihr Verständnis. Hochachtungsvoll, Gebrüder Kröne. Friedrich fiel aus allen Wolken. Natürlich kannte er die weltberühmte Münzzeitschrift seit Jahren, aber er hatte sich bisher nicht mal ein kleines Inserat dort leisten können. Ungläubig starrte er auf das ganzseitige Inserat, das in anspruchsvoller Aufmachung und mit erlesenen Worten für sein Geschäft warb. Im selben Augenblick klingelte wieder das Telefon. „Friedrichs Münzenparadies“, weiter kam er nicht, denn die Stimme am anderen Ende der Leitung setzte ihre ganze Überzeugungskraft ein, um Friedrich umzustimmen. „Es ist wirklich nur ein Aprilscherz? Ganz sicher?“, fragte er misstrauisch. Und wieder sagte die Stimme aus dem Telefon Dinge, die Friedrichs Sammlerseele zutiefst berührten. Schließlich entschied er: „Ich bin dabei, aber halten Sie meinen Namen heraus.“ Beherzt gab er mit Unterzeichnung der Druckfahne das Inserat frei, das hoffentlich viele Kunden in sein Geschäft bringen würde. Nur Augenblicke später kam der Bote zurück, legte eine Zeitung auf den Tresen und stürmte mit der frisch unterzeichneten Freigabe wieder hinaus. Vorsorglich hängte Friedrich ein Schild in die Tür: Bin gleich wieder da. Dann wählte er die Telefonnummer, die ihm die Stimme genannt hatte. „Hallo? Ist dort Reitas? Entschuldigen Sie die Störung. Wir kennen uns nicht, doch ich habe hier etwas, das Sie interessieren wird.“
1. Juni, Freitag, Mittag.
Reitas steckte das Telefon zurück in die Tasche, blickte seine Golfkumpels an und sagte: „Das glaubt ihr nie!“ „Keine Telefone auf dem Golfparcours. Das ist eine goldene Regel im Club“, mahnte Merz mit erhobenem Zeigefinger. Merz war Vorstandsvorsitzender im Aufsichtsrat der Bank und hatte Reitas zu einer der wichtigsten Machtpositionen im Unternehmen verholfen, damit er dort in seinem Sinne handeln konnte. Sicherlich war er auch einigen hohen Leuten böse auf die Füße getreten, doch wer nicht nach unten tritt, kommt nie nach oben, lautete seine Devise. „Ich habe die Chance zu einem Insidergeschäft“, platzte Reitas heraus und seine geweiteten Pupillen verrieten seine Aufregung.
„Was denn? Willst du diesen, ach, wie war noch mal sein Name, na, du weißt schon, willst du den wieder übers Ohr hauen?“, fragte Huckers, der ein hohes Tier im Finanzministerium war. „Nein, mir wurde der Silberne Adler angeboten, unter der Hand natürlich. Ihr wisst schon, der vor vier Jahren aus dem Britischen Museum verschwand.“
„Der ist doch bei dem Brand damals geschmolzen“, war sich Huckers ganz sicher.
„Blödsinn! Das haben die nur gesagt, weil sie nicht zugeben konnten, dass er gestohlen wurde“, erwiderte Reitas, während Merz nur verständnislos guckte: „Was ist denn der Silberne Adler?“ „Eine sehr seltene Münze aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Es gibt nur noch drei davon“, erklärte Reitas ungeduldig.
„Genauer gesagt zwei, die dritte ist verbrannt.“ Huckers konnte sich diese Bemerkung einfach nicht verkneifen, aber Reitas war sowieso schon losgerannt und hörte ihn gar nicht mehr. Merz und Huckers sahen sich einvernehmlich an. „Er kann es einfach nicht lassen, diese Schwäche fürs Geld“, murmelte Merz. „Für Münzen“, berichtigte ihn Huckers, erntete dafür aber nur einen tadelnden Blick von Merz.
Friedrichs Münzenparadies An- und Verkauf, las Reitas leise vor, als er bei dem kleinen Laden mit dem staubigen Schaufenster eintraf. Energisch, wie es so seine Art war, trat er ein. Der ältere grauhaarige Herr hinter dem Holztresen sah ihn erwartungsvoll an. Reitas konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er der erste Kunde seit Jahren war, der den Laden betrat. “Herr Reitas?” Reitas, dem die Gier förmlich ins Gesicht geschrieben stand, reagierte überhaupt nicht auf Friedrichs zaghafte Frage, sondern kam gleich zur Sache: „Haben Sie sie hier?“ „Nein, ich bin nur der Mittelsmann.“
Enttäuscht und sichtlich verärgert knurrte Reitas: „Und was mache ich dann hier?“
„Sie bekommen von mir die Adresse und das Erkennungszeichen.“ Friedrich übergab ihm die Zeitung, die der Bote dagelassen hatte. „Die Adresse steht oben links auf dem Titelblatt“, erklärte er und wischte sich mit einem karierten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. „Tolles Erkennungszeichen, die Tageszeitung. Meinen Sie nicht, dass es da zu Verwechslungen kommen könnte?“, fragte Reitas unwirsch. „Es ist die Zeitung von morgen“, beeilte sich Friedrich zu antworten, während er in Gedanken eigentlich schon dabei war, seinen Laden für den zukünftigen Kundenansturm auf Vordermann zu bringen. „Oh, das ist ja cool. Stehen da etwa auch die Lottozahlen drin?“, spottete Reitas und warf einen schnellen Blick auf die Titelseite. Neben der Schlagzeile ‚Tod bei Autocrash’ war das Foto einer blutüberströmten Frau abgebildet. Bleich vor Schrecken las er weiter: ‚Junge Frau verblutet in der Nacht’. Die Frau auf dem Foto kannte er nicht, aber das Unglücksauto war von derselben seltenen Marke wie das seiner toten Freundin, die er beinahe geheiratet hätte. Damals trug er wochenlang den Verlobungsring mit sich herum, konnte sich aber nicht überwinden, ihr einen Antrag zu machen. Und dann war es zu spät. Sie starb bei einem Autounfall. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter und für einen kurzen Augenblick machte sich in ihm wieder diese Leere breit, die ihn nach seinem Verlust monatelang erfüllt hatte. „Alles nur Zufall, das Foto ist ja auch nicht besonders“, versuchte er sich zu beruhigen, als er in seinen Sportwagen stieg, der ständig die neidischen Blicke der anderen auf sich zog. Von diesem Modell gab es nur noch wenige Exemplare und so hatte er ihn damals den Verwandten seiner Freundin günstig abgekauft. Bis zur genannten Adresse war es nicht weit, aber die Zeit war knapp und so raste er los, während Friedrich kopfschüttelnd hinter seinem Tresen zurückblieb und sich wunderte: „Komischer Aprilscherz. Dem armen Kerl vorzugaukeln, dass er eine Münze kriegen kann, die es gar nicht gibt.“ Vor dem Geschäft angekommen parkte Reitas und blickte sich um. Auf einem der Schaufenster prangte in verwitterten Lettern: Pfandleihe Trübinger. Hier sollte er warten, die Zeitung gut sichtbar in der Hand. Einen Moment lang zögerte er, doch dann stieg er aus und lehnte sich locker und lässig gegen seinen rot lackierten Wagen.
1. Juni, Freitag, Nachmittag.
Mira saß im Auto und kontrollierte noch mal den Sitz ihrer Perücke im Rückspiegel, als ein roter Sportwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Ein Mann stieg aus und hielt eine Zeitung in der Hand. „Das Erkennungszeichen“, murmelte Mira. „Ja, kein Zweifel, das ist der Mann auf dem Foto.“ Da stand er nun auf der anderen Straßenseite mit der Zeitung in der Hand und sah aus wie ein Märchenprinz, der so ein Angeberauto eigentlich gar nicht nötig hatte.
„Sie spielen seine tote Freundin und er kann Sie dann retten“, hatte der Psychiater von ihr verlangt. Zwar glaubte sie nicht wirklich daran, dass ein Rollenspiel helfen würde, sein Verlusttrauma zu bewältigen, aber die Bezahlung war so exorbitant, dass sie Monate davon leben konnte. „Showtime!“ Sie verriegelte die Tür auf der Fahrerseite und öffnete die Beifahrertür. Dort auf dem Fußweg stand eine vorbereitete Wanne mit Benzin, die man von der Straßenseite aus nicht sehen konnte. Sie entzündete das Benzin und schloss schnell die Autotür, denn die ersten Flammen züngelten schon außen am Wagen hoch. Etwas mulmig war ihr schon zumute, als sie zur anderen Seite rutschte und wie wild mit den Fäusten von innen gegen die Scheibe trommelte. Dabei schrie sie, so laut sie nur konnte, seinen Namen: „Reitas! Reitas!“ In der Zwischenzeit hatte sich auch Frank mit seiner Kamera in der Straße postiert, aber anstatt sich auf die Pfandleihe zu konzentrieren, hatte er nur noch Augen für den schicken roten Sportwagen. Als das Geschrei losging, wurde er ebenso aus seinen Gedanken gerissen wie Reitas, der sich umdrehte und versuchte, die Situation zu erfassen.
Schwarzer Rauch stieg auf und Flammen wanden sich um ein Auto, in dem eine Frau saß und verzweifelt irgendetwas rief, das sich wie sein Name anhörte. Vor Entsetzen ließ er die Zeitung fallen. Sie sah aus wie seine tote Freundin. Die gleichen Haare, das gleiche Kleid.
„Reitas! Hilf mir!“ Diesmal hatte er seinen Namen genau verstanden und rannte Hals über Kopf los.
„Anja!“ Verzweifelt versuchte er, die Tür zu öffnen.
Als er erkannte, dass das Auto nur von außen brannte, stutzte er kurz, doch es blieb ihm keine Zeit, etwas zu sagen. Ein riesiger Kieslaster erfasste ihn und schleuderte ihn gegen eine Hauswand. Der eigenartig dumpfe Knall des Aufpralls brannte sich tief in das Gedächtnis all jener, die den letzten Sekunden im Leben des Mario Reitas beiwohnten.
Den Laster hatte ich aus Sicherheitsgründen erst kurz zuvor gestohlen. Als ich einen Blick in den Rückspiegel warf, sah ich kurz noch das, was von Reitas übrig geblieben war – und einen Fotografen, der in aller Ruhe Fotos schoss, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dem Opfer zu helfen. So wie selbst ein König nicht seine Diener herbeiruft, um die flackernde Flamme seiner Bettkerze zu löschen, sondern diese zwischen den eigenen Fingern erdrückt, so war es für mich immer eine Frage der Ehre, derjenige zu sein, der im letzen Akt das Lebenslicht zum Erlöschen bringt. Zwar hatte ich mich schon gelegentlich mit der Möglichkeit befasst, auch das zu organisieren, aber letztlich war mir der Gedanke unerträglich, einen Unschuldigen in dem Bewusstsein zurückzulassen, dass er jemandes Leben genommen hat, während ich für dessen Ableben ein fürstliches Honorar kassierte. Auf wunderliche Weise fand Frank nicht den Weg zurück zu seiner alten Zeitung und sein ehemaliger Chef konnte Franks beruflichen Aufstieg nur aus der Ferne verfolgen. Seine Fotos und Artikel prangten jetzt auf einer anderen Art von Zeitung, die eben mehr seinen wahren Neigungen entsprach:
‚Heldentod! Banker starb beim Versuch, Frau zu retten’
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